Haus ohne Schlüssel
Haus ohne Schlüssel aus 'Wellensang', Hrsg. Alisha Bionda
Schreiblust-Verlag, Dortmung 2004
Marlies Eifert
Und was machst du jetzt?”“ Ich warte halt, bis sie wiederkommt”. Es kam überhaupt nichts auf die Reihe, und als ich mich dann endgültig ins Auto Richtung Wüstenwald machte, war alles schon zu spät. Tante Irene hatte sich eine Woche lang nicht gemeldet. Wenn ich anrief, dann kam das Besetzzeichen. Eigentlich war das nicht weiter besorgniserregend, denn meistens legte meine Ich dachte, ich spinne. Aber es war eigentlich alles wie sonst, die Schuppentür weit geöffnet, das ‘Häckelchen’ lehnte an der Wand, die weißen und rosafarbenen Geranien auf dem Mäuerchen, das das Grundstück nach hinten begrenzte, blühten um die Wette , als wären sie heute morgen noch gegossen worden, der Tisch draußen war wie bei meinem letzten Besuch mit einer blau-weißen Wachstuchdecke bedeckt. Schnecken ob mit oder ohne Häuschen ernährten sich genüsslich an den gerade gepflanzten Tagetes . Wie oft hatte sich Tante Irene darüber beklagt.
Nur eben: Das Haus stand nicht mehr am Platz. Es sah aus, als hätte nie vorher ein Haus dort gestanden. Keinerlei Mauerreste, kein Hinweis auf Tante Irenes Tische Stühle, Bänke, Schränke, Bücher...nichts.
Der Regen hört nicht auf. Und jeden Tag sammle ich Schnecken, zehn , zwanzig am Tag. Mit Häuschen, auch ohne. Ohne Häuschen sehen sie aus wie Würmer. Sie sitzen überall, kriechen die Mauer hoch. Kriechen auf der Straße. Wenn ich was gesetzt habe, Margariten, Tagetes- die Schnecken freuen sich.. Es dauert ein paar Stunden, und man sieht fast nicht mehr, dass da mal eine Pflanze gestanden hat. Mit Haut und Haar. Wörtlich.
Frau Beseleit war gestern hier. Wir haben hinten am Tisch vor dem Mäuerchen gesessen. Von alten Zeiten erzählt. Ein Schwätzchen. Vor uns krochen sie die Treppen
Die Nachbarn haben Gift gestreut. Wenigstens auf der Straße liegen sie herum. Tot. Zusammengekrümmt.
20. Juni
23 Juni
Birte ruft nicht an. Soll ich? Ach , es bringt ja doch nichts. Ich habe auch keine Lust mehr, was zu lesen. Zu essen schon gar nicht. Es ist jetzt heiß. Meistens lasse ich die
Vom Bett aus sehe ich nichts mehr. Es wird enger. Dunkel. Ich wollte in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Das ging nicht. Ich kann auch nicht sagen, warum. Es war so, als wäre die Küche gar nicht mehr da. Verrückt. Unheimlich. Häuser können doch nicht von sich aus schrumpfen??!!!
Fressen.
Frau Beseleit hat einen Kondolenzbrief geschrieben, ist ganz erschüttert. Sie fragt mich, wohin mit dem Kranz?
Ich habe geträumt. Ich kann’s nicht sagen.Oder doch. Es wurde enger, noch enger, die Wände des Zimmers wuchsen auf mich zu. Hüllten mich ein. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich oben an die Decke anstoßen. Decke?Decke? Nur vorne eine Öffnung . Licht. Vorsichtiges Tasten. Fühler ausstrecken, vorstrecken, mich dehnen Wohlig. Da war Licht. Auch Feuchtes Ich wollte essen, nur essen.
Wenn ich ein braunes Blatt sehe, ein bisschen zusammengerollt, denke ich : Das ist eine Schnecke. Seit gestern krumpelt der Magen. Mir ist schlecht, ich hab’ keinen Hunger. Essensreste stehen in der Küche herum. So furchtbar weh tut’s nicht. Besonders im Bett nicht. Doch ja, Tee trinke ich schon, Magentee, da lüge ich Birte am Telephon nicht an. Sie ist ja ein gutes Kind, würde auch kommen. Aber was soll sie hier? Wenn es mir wieder besser geht, setzen wir uns draußen an den Tisch. Ich habe extra die blau-weiße Decke besorgt. Aber da sind ja die Schnecken.
Da nehme ich so eine Schnecke hoch, eine mit Häuschen. Ich bin , wenn ich ehrlich bin, ziemlich ambivalent. Eigentlich mag ich sie, wenn sie nur nicht diesen Appetit auf
14. Juni
5. Juni
2.Juni
Ob ich nicht endlich hier wegziehe? War das heute wieder ein Regen! Und dann noch dieser Brief heute morgen. Immer wieder geht es um die Mauer, die Birtes Mann vor
Und jetzt immer wieder dieser Ärger, weil Frieder nicht so richtig auf die genaue Grenzziehung aufgepaßt hat. Er sagt-ich höre ihn noch heute: “Bei den vielen
5. Mai
Ich setzte mich an den Tisch mit blau-weiß-gestreifter Decke- kam langsam ein bisschen zur Ruhe. Ich musste die Nachbarn fragen, die Polizei.”Ja, ja, wir haben uns auch gewundert,
1. Juni 30. Juni 27. Juni 15.Juni Was können die einzelnen Schnecken dafür? Sie wollen nichts anderes als wir alle, essen, leben. Aber ich werfe sie in die braune Tonne und darf mir nicht vorstellen, was
Der Urlaub auf Ibiza vor drei Jahren. Ja, hier: Jetzt wurde es interessant.
Ach ja, der langen Rede kurzer Sinn , wir fanden keine Spur von Tante Irene. Vermisstenanzeige, Mordverdacht, Fernsehen. Nach einem Monat schwand das öffentliche Interesse. Der ‘Fall Irene S.” kam zu den Akten. Bis auf weiteres. Aber ich wurde nicht fertig damit, hatte auf einmal Zeit. An jedem Wochenende hielt ich mich in Wüstenwald auf., setzte mich an den Tisch, las die Schnecken ab, harkte, zog Gras aus den Ritzen und ...suchte. An die letzten Telephongespräche mit Tante Irene erinnere ich mich noch ziemlich genau. So lang ist es noch nicht her. Und was ist alles in der Zwischenzeit passiert! - So als würde sie mir das zum allerersten Mal erzählen, bekam ich zu hören: ”Du, ich habe meine Schlüssel verloren. Du weißt doch, die Sicherheitsschlüssel, die mit dem geriefelten |